»Impfen. Das Verb war ursprünglich ein Fachwort des Obst- und Gartenbaues mit der Bedeutung ›ein Pfropfreis einsetzen, veredeln‹ … Im 18. Jahrhundert wurde ›impfen‹ in die medizinische Fachsprache übernommen mit der Bedeutung ›Krankheitserreger in abgeschwächter Form in den Körper übertragen zum Zwecke der Immunisierung gegen ansteckende Krankheiten‹.« (Duden: Das Herkunftswörterbuch)
Impfen ist also in zweifacher Hinsicht eine kulturelle Errungenschaft. Ohne Sesshaftwerdung, Domestizierung und Rinderhaltung kein sicherer, aus den für den Menschen ungefährlichen Tierpocken gewonnener Impfstoff und keine Entwicklung weiterer Schutzimpfungen. Der Erfolg gibt den Schutzimpfungen recht, ist aber zugleich ihr Fluch, denn leider und zum Glück kennt heute kaum noch jemand (in den Industriestaaten) aus persönlicher Erfahrung die Folgen der sogenannten Kinderkrankheiten.
Das Wort Kinderkrankheit suggeriert, es handle sich um etwas Harmloses oder etwas, das ausschließlich Kinder beträfe. Das Gegenteil ist der Fall: Das Wort bezeichnet Infektionskrankheiten wie Masern, Röteln oder Windpocken, die so ansteckend sind, dass die meisten Menschen ungeimpft bereits als Kinder daran erkranken würden. Die »Durchseuchungsrate« ist extrem hoch, und deshalb ist eine hohe Durchimpfungsrate gerade für diejenigen lebenswichtig, die nicht geimpft werden können. Dazu zählen Säuglinge und Menschen mit angeborener Immunschwäche, ebenso Krebspatientinnen und Menschen, die eine Organtransplantation hinter sich haben. Für sie ist der Herdenschutz lebensnotwendig, das heißt, dass alle Menschen in ihrer Umgebung geimpft sein müssen.
Damit nicht nur der Herdenschutz funktioniert, sondern auch die weltweite Elimination der Masern erfolgreich ist, müssten 95 Prozent der Bevölkerung immun sein, erst dann kann das Virus sich nicht mehr ausbreiten. Diesen Wert verfehlt nicht nur Deutschland seit Jahren, auch andere europäische Länder und die USA sind von Masernepidemien betroffen. Mit dem Wohlstand scheint nicht nur Impfskepsis, sondern auch -müdigkeit einherzugehen.
Heute müsste niemand mehr an Poliomyelitis (Kinderlähmung) oder Tetanus (Wundstarrkrampf) elendig krepieren. Am Rotavirus erkranken weltweit jährlich 500 Millionen Kinder, für 850.000 endet die Infizierung tödlich. Warum? Weil der Impfstoff nicht für alle Menschen gleichermaßen verfügbar ist. Während anderswo Kinder zu Tausenden sterben, weil es keinen Zugang zu Impfstoffen gibt oder die Eltern kein Geld dafür haben, leisten sich deutsche Wohlstandseltern eine zynische Impfkritik.
Dabei stützen sie sich auf Leute wie den britischen Chirurgen Andrew Wakefield. Der erregte 1998 großes Aufsehen, als er in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet« einen Artikel veröffentlichte, in dem er einen Zusammenhang zwischen dem Kombinationsimpfstoff für Masern, Mumps und Röteln (MMR) und Autismus herstellte. In der Folge sanken die Impfraten insbesondere in Großbritannien drastisch. Dass Wakefield im Vorfeld knapp eine halbe Million britische Pfund von Anwältinnen, die Eltern autistischer Kinder vertraten, erhalten hatte und dass er zudem hoffte, mit einem eigenen Masernimpfstoff ins Geschäft einzusteigen, kam erst 2006 an die Öffentlichkeit. Vier Jahre später entzog die britische Ärztekammer Wakefield die Approbation, was ihn nicht daran hindert, in den USA weiter zu praktizieren. Der Mythos, zwischen der MMR-Impfung und Autismus bestünde ein Zusammenhang, ist zwar inzwischen durch Hunderte Studien widerlegt, wirkt jedoch fort. Einer seiner Multiplikatoren ist Donald Trump.
Die Wurzeln der Skepsis
Was treibt die Impfgegnerinnen um? Dazu mag ein Blick in die Geschichte der Impfkritik taugen. Denn die ist fast so alt wie die Impfungen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein starb jedes fünfte Kind an den Pocken. 1874, drei Jahre nach der deutschen Reichsgründung, wurde mit dem Reichsimpfgesetz eine Impfpflicht gegen die Virusinfektion eingeführt. Das Land Bayern war bereits 1807 Vorreiter in den deutschen Ländern gewesen.
Kaum waren die ersten Impfungen verabreicht, versammelten sich auch schon die Impfgegnerinnen, gründeten Vereine, eine eigene Zeitschrift nannte sich »Der Impfgegner«. Ihre Kritik: Impfungen seien wirkungslos, unnatürlich, giftig und verursachten schlimmere Schäden als die Krankheiten, gegen die sie immunisieren sollten. Sicherlich waren die ersten Impfstoffe nicht so verträglich wie die heutigen. Dass dadurch mehr Menschen Schaden genommen hätten als durch die Infektionskrankheiten, ist allerdings sehr unwahrscheinlich.
Unterscheiden muss man zwischen Impfgegnerinnen, die Schutzimpfungen prinzipiell ablehnen, und Impfkritikerinnen, die über den richtigen Zeitpunkt von Impfungen und die individuelle Notwendigkeit streiten. Unter Impfkritikerinnen findet man auch einige Ärztinnen, vor allem solche mit zusätzlicher Heilpraktikerausbildung. Sie reden viel davon, dass Eltern ihr Kind mit Fürsorge und »Energiearbeit« betreuen sollten, dann würde es auch nicht krank.
Die heutzutage verwendeten Impfstoffe sind sehr sicher, sie sind so schwach dosiert wie gerade notwendig, haben wenige unerwünschte Wirkungen, und ein Bundesgesetz sichert für die sehr seltenen Fälle eines auftretenden Schadens Entschädigung zu. Die Kritik gegenüber den staatlich legitimierten Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte der Untertanen hat sich derweil kaum verändert. Nur sind es heute überwiegend gut ausgebildete Akademikerinnen, die sich »unabhängig« und »alternativ« im Internet informieren und dabei dank der hervorragenden Vernetzung der Impfgegnerinnen schnell auf Seiten landen, auf denen Bücher mit Titeln wie Impfen und Aids: Der neue Holocaust beworben werden. Sie verbreiten die Lüge, mittels Impfungen würden absichtlich das Aids-Virus und Nervengifte verabreicht, und Regierungen würden dazu gedrängt, einen Impfzwang durchzusetzen, damit Big Pharma mehr Geld verdienen könne.
In ihrem verqueren Denken stilisieren die Impfgegnerinnen sich selbst als die neuen Jüdinnen und potentiellen Opfer einer großangelegten Verschwörung zur Kontrolle und/oder Dezimierung der Bevölkerung. Es kursiert das Gerücht, Pharmaunternehmen würden abgetriebene Föten zur Gewinnung von Impfstoffen benutzen. Altbekannte Motive des Antisemitismus scheinen hier auf: die Ritualmordlegende und das Bild des brunnenvergiftenden Juden in der verschwörerischen, hinterhältigen Vergiftung durch die Impfspritze, die den Tod des Opfers oder die Kontrolle über es zur Folge hätte. Ebenso stehen Vorstellungen von einer Verunreinigung des Blutes beziehungsweise des Körpers, von der Geldgier der Konzerne, die über Kinderleichen gingen, und von Politikerinnen und Ärztinnen, die als Marionetten agierten, dem Antisemitismus nahe. Der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, schrieb 1917 über die Gefahren des Impfens:
Ich habe Ihnen gesagt, dass die Geister der Finsternis ihre Kostgeber, die Menschen, in denen sie wohnen werden, dazu inspirieren werden, sogar ein Impfmittel zu finden, um den Seelen schon in frühester Jugend auf dem Umwege durch die Leiblichkeit die Hinneigung zur Spiritualität auszutreiben. Wie man heute die Leiber impft gegen dies und jenes, so wird man zukünftig die Kinder mit einem Stoff impfen, der durchaus hergestellt werden kann, so dass durch diese Impfung die Menschen gefeit sein werden, die »Narrheiten« des spirituellen Lebens nicht aus sich heraus zu entwickeln, Narrheiten selbstverständlich im materialistischen Sinne gesprochen.
Das erklärt, warum gerade die nach Steiners Lehren konzipierten Waldorfschulen wahre Masernherde sind und warum von den Eltern schulmedizinische Behandlung eher abgelehnt wird. Wenn finstere Geister, die vom teuflischen Ahriman angeführt werden, hinter Impfungen stecken und verhindern, dass die Menschen ihre Spiritualität entwickeln können und sie statt dessen zu Materialisten programmieren, dann schickt man sein Kind lieber zur nächsten Masernparty und erwartet freudig den von Internet-Impfexpertinnen prophezeiten Entwicklungssprung (den es allerdings nur in der Einbildung der Eltern gibt).
Den Kampbegriff »Schulmedizin« haben Homöopathinnen im 19. Jahrhundert eingeführt, um sich von gültigen Lehrmeinungen und der oft rabiaten etablierten Medizin abzugrenzen. Die Nazis fügten ihm das Adjektiv »verjudet« hinzu, das nach 1945 zwar wieder aus dem Sprachgebrauch verschwand, aus dem Denken der Alternativmedizinerinnen jedoch nicht unbedingt. Gehalten und verstärkt hat sich die abwertende Konnotation; Impfgegnerinnen nennen die universitäre Medizin gar eine Religion.
Die Nazis gingen recht pragmatisch mit Impfungen um, die Impfpflicht lockerten sie aus ideologischen Gründen, denn das »Durchmachen« von Krankheiten diente der »natürlichen Selektion«. Es zeigte sich allerdings auch, dass die Impfquoten dank Werbung durch die Pharmaunternehmen und breite Aufklärung bei freiwilligen Impfungen wie der gegen Diphterie wesentlich höher waren. Wehrmachtsangehörige fielen weiterhin unter strikten Impfzwang, denn im Osten dräuten »verlauste, dreckige Juden«, die den deutschen Volkskörper durch das durch Läuse übertragbare Fleckfieber schädigen würden.
Leben retten durch Impfen? Oder soll man es lassen?
Bei der alle paar Jahre aufkommenden Debatte über eine allgemeine Impfpflicht trommeln stets erfolgreich die strikten Impfgegnerinnen, die kaum fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, so laut, dass man den Eindruck gewinnen muss, sie wären in der Mehrheit. Sie sorgen für Angst und Verunsicherung, indem sie verbreiten, Impfungen würden Autismus, Entwicklungsstörungen und Wesensveränderungen auslösen.
Die Masernimpfung rettet weltweit jährlich etwa einer Million Menschen das Leben. Das interessiert die sonst so zahlenfixierten Impfgegnerinnen jedoch wenig. Sie argumentieren, dass in Deutschland wesentlich mehr Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen oder durch Krebs sterben als durch eine Maserninfektion, es also offenbar drängendere Probleme gäbe. Das Scheinargument wird noch übertroffen von der häufig geäußerten Behauptung, bei der als Spätfolge der Masernerkrankung im Verhältnis eins zu tausend auftretenden Enzephalitis (Gehirnentzündung) handle es sich in Wirklichkeit um einen Impfschaden, der von der Pharmaindustrie vertuscht würde.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will im kommenden März nun eine umfassende Masernimpfpflicht einführen. Wer nicht impfen lässt, muss mit Kita-Verbot und empfindlichen Geldbußen für nicht geimpfte Kinder im schulpflichtigen Alter rechnen. Man kann das als Bevormundung empfinden; man kann es als Gebot der Vernunft akzeptieren, das eigentlich keinen Zwang erfordern sollte.
Ned Flanders, der überfromme Nachbar der »Simpsons«, ruft seinen beiden Söhnen, die schwitzend und in Decken gehüllt mit den Zähnen klappern, zu: »Sie kontrollieren unsere Gedanken mit Grippeimpfungen, ich wusste es! Kinder, seid ihr nicht froh, dass wir nicht an Impfungen glauben?« Auf den Entwicklungssprung von Rod und Todd warten die Zuschauerinnen noch heute.
Überarbeitete und aktualisierte Fassung, zuerst veröffentlicht in „konkret“ 6/2019