I want to believe

Brunnenvergiftung heißt heute "Chemtrails"Chemtrails, New World Order, Zwangsimpfungen und Bevölkerungsaustausch – Verschwörungsideologien sind durch das Internet präsenter denn je.

»Dieser geheime Informant, der Sie angerufen hat, woher wissen wir, dass das nicht einer dieser Spinner ist, der sein enzyklopädisches Wissen über außerirdisches Leben aus Wiederholungen von ›Raumschiff Enterprise‹ bezieht?« – Dana Scully in »Akte X«

Believe the Lie

Als ich 14 war, erreichte die Fernsehserie »Akte X« ihren Zenit. Meine Freundinnen und ich gehörten damals zu den X-Philes, die die Folgen auf Videokassetten mitschnitten, Dialoge mitsprechen und die Folgen aufzählen konnten, in denen die beiden Agenten keinen Ford Taurus fahren. Uns war natürlich klar, dass die Welt(all)verschwörungen um Schattenregierungen und Alien-Invasionen Quatsch sind. Gut gemachter Quatsch, aber Quatsch. Wer das leiseste Gespür für Ironie besitzt, merkt das spätestens bei der Doppelfolge »Dreamland«, in der Fox »Spooky« Mulder »durch einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum« den Körper mit Morris Fletcher, einem unsympathischen Kerl, der in der Area 51 arbeitet, tauscht, was zu einigen amüsanten Nebenhandlungen führt. Fletcher/Mulder erklärt den Lone Gunmen, einem Trio gealterter Nerds, die an jeder Straßen- und Internetecke eine Verschwörung wittern, dass er Saddam Hussein erfunden hätte: »Wenn ihr Typen nur wüsstet, wie viele eurer Geschichten ich mir auf dem Klo ausgedacht habe.«

Menschen lieben Geschichten, Fans von Verschwörungserzählungen ganz besonders. Und eine gute Story war immer schon besser als die Realität, die entweder langweilig oder kompliziert ist. Was die Erzählungen von vermeintlichen Komplotten so anziehend macht, ist ihr Angebot einfacher Erklärungen für komplexe Zusammenhänge. Sie machen den Gläubigen zudem zu einem Teil einer »erwachten« Elite, die sich von den »Schlafschafen« abgrenzt, und am wichtigsten: Sie sind sinn- und identitätsstiftend. Hier wird es gefährlich: Hinterfrag nicht meinen Verschwörungsglauben, damit zerstörst du meine Identität! Diesen Spinnern, denen man heute in auserwählten Facebook-Gruppen und Internetforen begegnet, ist mit gesundem Menschenverstand also nicht beizukommen. »Gegen Glaube helfen keine Argumente«, konstatiert der Psychologe Sebastian Bartoschek, der sich seit Jahren mit Verschwörungsideologien und der Psyche ihrer Anhänger beschäftigt. Sachliche Argumentation wird damit nicht nur unmöglich, sie bedient zusätzlich den Verschwörungsglauben, denn wer Belege dafür anführt, dass 9/11 kein Insidejob war, oder wer Kondensstreifen am Himmel durch Luftfeuchtigkeit erklärt, gehört selbst zum System, ist gekauft, gehirngewaschen oder alles zusammen.

Auf Facebook und Youtube locken Algorithmen: Klick mich, ich bin die krasseste aller Geschichten! Und es wäre doch wirklich toll, wenn die Realität ein bisschen mehr wie ein guter Actionfilm wäre, in dem Gut und Böse klar verteilt sind und man selbst die Kontrolle und eine bedeutende Rolle hat: die des Superhelden (seltener die der Superheldin), der die Gesellschaft vor dem drohenden Unheil bewahrt und am Ende das schönste Mädchen bekommt. In der Psychologie heißt diese Kontrolle Selbstwirksamkeit. Je weniger jemand davon hat, »desto bedeutender müssen die sein, die die Weltgeschicke wirklich in der Hand haben«, schreiben die Journalisten Christian Alt und Christian Schiffer in ihrem neuen Buch Angela Merkel ist Hitlers Tochter. Im Land der Verschwörungstheorien.

Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass Gläubigkeit mit einer Offenheit gegenüber Verschwörungserzählungen korreliert. Anders als Gottesfürchtige beten Verschwörungsgläubige allerdings »die allmächtige Instanz, an die sie glauben, nicht an, sondern verabscheuen sie«, wie der Religionswissenschaftler Michael Blume konkretisiert.

Einigkeit herrscht ebenfalls darüber, dass, wer an eine Verschwörungserzählung glaubt, mit großer Wahrscheinlichkeit auf weitere hereinfallen wird. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob die Erzählungen sich gegenseitig widersprechen. Leute, die davon überzeugt sind, dass Prinzessin Diana ihren Tod nur vorgetäuscht hat, können gleichzeitig daran glauben, dass sie ermordet wurde – Schrödingers Prinzessin.

Trust no one

Etwa die Hälfte der Bevölkerung der USA glaubt an mindestens eine Verschwörungserzählung, bei den Deutschen sind es ein paar weniger. In Amerika machen derzeit unter dem Namen QAnon ein oder mehrere »Aufklärer« mit angeblichen Enthüllungen der höchsten Sicherheitsstufe von sich reden. Die »geistesgestörte Verschwörungssekte« (»Washington Post«) reproduziert Konspirationserzählungen wie Pizzagate (Hillary Clinton, Barack Obama und der milliardenschwere Philantrop jüdischer Herkunft, George Soros, betreiben in einer Pizzeria einen Kinderhändlerring) und bedient sich, natürlich, antisemitischer Mythen, denn die drei gehören einer »Deep State«-Elite an, die wiederum von der »globalen Bankenelite« kontrolliert wird. Einzig Donald Trump verspricht Rettung und wird dem Treiben ein Ende setzen. Bei Auftritten des Präsidenten fallen immer häufiger QAnon-Anhänger gekleidet in Q-Merchandise und bewaffnet mit Q-Plakaten auf. Der Amerikanist und Verschwörungsideologie-Experte Michael Butter betont in seinem Buch »Nichts ist, wie es scheint«, dass Verschwörungserzählungen heute dank Internet sehr viel präsenter sind als vor 20 Jahren und sich wesentlich leichter verbreiten. Es hängen aber heute nicht mehr Leute als vor 100 oder 200 Jahren solchen Wahnvorstellungen an. Wer an so etwas glaubt, hat nicht nur kein Vertrauen in Regierungen und »Mainstream-Medien« (wofür es gute Gründe geben kann), sondern ist auch historischen und naturwissenschaftlichen Fakten gegenüber resistent. Besonders anfällig sind laut Butter – Überraschung! – weiße Männer um die 40, typische Trump- oder AfD-Wähler, die sich machtlos und als Verlierer fühlen (ohne es sein zu müssen) und um ihre Männlichkeit und ihren sozioökonomischen Status fürchten. Kommen noch extreme politische Ansichten hinzu, Stichwort Reichsbürger, ist der Superverschwörungstheoretiker geboren. Woran so jemand auf keinen Fall glaubt, ist der Zufall; wem er hingegen uneingeschränkt sein Vertrauen schenkt, sind Leute wie Ken Jebsen, Daniele Ganser und Andreas von Bülow. Die drei waren früher selbst Teil des »Systems« und stilisieren sich seit ihrem teils freiwilligen, teils unfreiwilligen Ausscheiden als Aufklärer und Systemkritiker, die ja bloß Fragen stellen. Diese drei Profiteure der Leichtgläubigkeit sind keineswegs harmlos. Denn Verschwörungserzählungen lassen sich hervorragend populistisch nutzen – um Ängste zu schüren, Misstrauen und Unsicherheit zu verstärken, aber auch ganz profan: um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Solche »Experten«, die mit Doktortitel oder Insiderwissen auftrumpfen und mit einer gewissen Professionalität auftreten, sind gefragt.

Die Facebook- und Youtube-Algorithmen erzeugen zudem Filterblasen und Echokammern, in die man schnell hineingerät, aus denen die Leichtgläubigen aber kaum herausfinden. Vor einem Jahr legten Andreas Hartkamp und Josef Holnburger an der Universität Hamburg eine Bachelor-Arbeit über die Netzwerkstrukturen von Verschwörungsseiten bei Facebook vor. Die wichtigste Schlussfolgerung der Politikwissenschaftler: »Besonders besorgniserregend sind die Nutzer, welche sich in der Mitte dieser Echokammer befinden – ihre Aktivität auf Facebook spielt sich vermutlich nur noch in der Blase der Verschwörungsmythen ab. Sie bestätigen sich gegenseitig in ihrem Wahn und sind kaum noch von einer ›normalen‹ Öffentlichkeit zu erreichen … Für diese Menschen gibt es keine Zufälle mehr, sondern nur noch die böse Weltelite … Und ihre Erlöser sind: die AfD, zusammen mit Putin und Trump.«

Sie sind dem ganz großen Komplott auf die Spur gekommen und erkennen im Chaos Muster, Zusammenhänge und letztlich immer den allmächtigen Strippenzieher, den Kraken, »den Juden«, auch wenn sie sich hüten, ihn so zu nennen. Praktisch alle gängigen Verschwörungserzählungen fußen auf antisemitischen Mythen: Brunnenvergiftung heißt jetzt Chemtrails, die »jüdisch-internationale Hochfinanz« nennt man heute »das Finanzkapital« oder kaum verschleiert »die Rothschilds«, die »jüdische Weltverschwörung« ist die New World Order (NWO), über die es viele verschiedene Erzählungen gibt – ihre Kernaussage: Eine kleine Elite arbeitet daran, die Souveränität der Nationalstaaten abzuschaffen, und bedient sich dazu – hier schließt sich der Kreis – verschiedenster Methoden zur Schwächung der Bevölkerung (Vergiftung durch Chemtrails und Zwangsimpfungen, aber auch Feminismus und »Genderwahn«). Nur Nazis wie der 2017 gestorbene Ryke Geerd Hamer, Erfinder der »Germanischen Neuen Medizin«, bekennen ganz unverblümt: »Juden wollen mit Chemotherapie die Nichtjuden vernichten.«

Viele Verschwörungserzählungen bleiben bewusst vage darin, wer denn nun eigentlich für all das verantwortlich sein und in welcher Weise davon profitieren soll. Damit bieten sie eine Projektionsfläche: Jeder und jede kann sich seine(n) oder ihre(n) Superschurken aussuchen und ins eigene konspirative Weltbild einflechten. Und der rassistische Verschwörungsgläubige wird auch noch zum unschuldigen Opfer, das sich lediglich gegen die perfiden Pläne der NWO/Aliens/Juden zur Wehr setzt. Wenn Merkel/Reptiloiden/Juden die »Flüchtlingsströme« lenken, ist es geradezu eine Verpflichtung, sich diesem Masterplan zur Ausrottung der Deutschen entgegenzustellen.

The Truth is out there

Butter stellt heraus, dass sich »reale Verschwörungen … deutlich von denjenigen« unterscheiden, »die Verschwörungstheoretiker entdeckt zu haben glauben. Daher hat sich auch noch nie eine Verschwörungstheorie im Nachhinein als wahr herausgestellt.« Ihre Anhängerinnen und Anhänger gehen von der falschen Annahme aus, Geschichte ließe sich in großem Umfang mindestens über Jahre, wenn nicht über Jahrhunderte hinweg planen. Während es sich bei realen Verschwörungen wie einem Attentat oder Staatsstreich in der Regel um zeitlich überschaubare, »relativ kurzfristig durchgeführte Vorhaben mit einem konkreten Ziel« handelt, berichten Verschwörungserzählungen von »wesentlich ambitionierteren, aber gleichzeitig vageren Zielen bis hin zur Weltherrschaft«.

Solche Erzählungen leben von Scheinkorrelationen, also einer Verbindung zwischen zwei gleichzeitig auftretenden Ereignissen, die jedoch nichts miteinander zu tun haben müssen. Eine der tödlichsten Scheinkorrelationen betrifft den Dreifachimpfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR-Impfung) und die Schlussfolgerung vieler Eltern, ihre Kinder nicht impfen zu lassen, da eine hartnäckige Legende besagt, es existiere ein Zusammenhang zwischen der Schutzimpfung und dem Auftreten von Autismus. Dass die These des britischen Mediziners Andrew Wakefield längst widerlegt ist, ignorieren die »Impfkritikerinnen« und »Impfkritiker«. Ergebnis: In Deutschland sind in den letzten zehn Jahren etwa 200.000 Menschen an Krankheiten gestorben, gegen die es Impfungen gibt. Masernpartys töten, Impfungen retten Leben.

Ein Meister der Scheinkorrelationen und einer der erfolgreichsten Produzenten von Verschwörungserzählungen ist Alex Jones, Betreiber des ultrarechten Lügenportals »Infowars«, dessen Strategie lautet: Entwickle eine Superverschwörungserzählung, propagiere sie aggressiv über alle dir verfügbaren Kanäle, brüll deine Kritikerinnen und Kritiker nieder und vermarkte Produkte, die gegen die schädlichen Einflüsse der dunklen Mächte helfen. Jones ist auf diese Art Multimillionär geworden. Er pöbelt gegen Impfungen, behauptet, den Amoklauf in der Sandy-Hook-Grundschule in Newtown/Connecticut im Jahr 2012 hätten Schauspielerinnen und Schauspieler inszeniert, um schärfere Waffengesetze in den USA durchzusetzen, und selbstverständlich waren die Amis das mit 9/11 selber. Ob er das alles selbst glaubt, ist irrelevant. Was er damit anrichtet, ist verheerend. So erhielt Leonard Pozner, der Vater eines der getöteten Grundschulkinder, mehrfach Morddrohungen und sollte das Grab seines Sohnes öffnen lassen, um zu beweisen, dass tatsächlich eine Kinderleiche darin liegt. Pozner war vorher glühender Anhänger von Jones. Gegen sein einstiges Idol strengt Pozner derzeit mit mehreren anderen betroffenen Familien eine Klage wegen Verleumdung an.

Fight the Future

Mit überzeugten Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretikern zu reden, hat keinen Sinn. Was also tun? Weder Butter noch Alt und Schiffer haben darauf befriedigende Antworten. Letztere sprechen von einem »Aufstand der Vernunft«, und dass man Verschwörungsgläubige irgendwo »abholen« müsse, bevor sie zu Rechten werden. Butter glaubt an die Wirkmächtigkeit der Vermittlung von Medienkompetenz. Na ja. Kürzlich haben Youtube, Facebook, Spotify und Apple bewiesen, dass man Verschwörungstheoretikern ihre Plattformen wegnehmen kann, als sie Alex Jones die Kanäle abdrehten. Grund hierfür waren allerdings nicht dessen dreiste Lügen und Verleumdungen, sondern seine verbalen Attacken gegen Muslime, Migranten und Trans-Personen. Der Twitter-Chef Jack Dorsey wollte sich dem kollektiven Bann nicht anschließen, denn Jones habe »nicht gegen unsere Regeln verstoßen«, und der Kurzmitteilungsdienst dürfe nicht zu einer Plattform werden, die »von unseren persönlichen Sichtweisen geleitet wird«.

So unrecht hat er nicht. Was passiert, wenn privatwirtschaftliche Unternehmen über Sag- und Unsagbares entscheiden, zeigten im Juli zwei Fälle von Rassismus beziehungsweise Antisemitismus. Eine junge Deutsche mit undeutscher Hautfarbe schilderte ihre Erfahrungen mit rassistischen Anfeindungen bei einem Weinfest in einem Kaff bei Wien und wurde dafür wiederholt von Facebook gesperrt. Ebenso erging es Yorai Feinberg, der in Berlin ein israelisches Restaurant betreibt und Hassbriefe und Morddrohungen gegen seine Person veröffentlichte. Zitate oder Ironie erkennen offenbar weder der Algorithmus noch die schlecht ausgebildeten und noch schlechter betreuten Sklavinnen und Sklaven der Löschteams von Facebook. Und für Jones’ Reichweite und Tantiemen waren die Sperrungen zwar ein schmerzhafter Einschnitt, doch für seine Verschwörungserzählung konnte ihm kaum etwas Besseres passieren, waren sie doch ein eindeutiger Beweis dafür, dass alle unter einer Decke stecken und sich gegen den unermüdlichen Verteidiger der Meinungsfreiheit verbündet haben.

Dass die imaginierten Superschurken nicht einfach längst alle missliebigen Personen eliminiert haben, ergibt im Verschwörungsuniversum Sinn, denn ohne Antagonisten macht auch Kopfkino keinen Spaß. Der Kampf Gut gegen Böse funktioniert schließlich nur, solange Vertreter beider Seiten im Spiel sind. Deshalb lässt Mulders Gegenspieler und »Puppenspieler des Wahnsinns« (Serienjunkies), der Cigarette-Smoking Man, den FBI-Agenten auch immer wieder mit dem Leben davonkommen. »Akte X« hat sich längst überlebt und mit der Anfang des Jahres ausgestrahlten elften Staffel endlich ein Ende gefunden. Was bleibt, sind Mulders ironisch gebrochene Aphorismen, die sich Verschwörungsfans ins Poesiealbum schreiben können: »Manchmal ist die einzige normale Antwort auf eine verrückte Welt der Wahnsinn selbst.«

Christian Alt/Christian Schiffer: Angela Merkel ist Hitlers Tochter. Im Land der Verschwörungstheorien. Hanser, München 2018, 288 Seiten, 18 Euro

Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien. Suhrkamp, Berlin 2018, 272 Seiten, 18 Euro

Andreas Hartkamp/Josef Holnburger: Verschwörungstheorien und soziale Netzwerke. Gegenöffentlichkeit 2.0? Bachelorarbeit, Universität Hamburg 2017

Zuerst veröffentlicht in „konkret“ 9/2018