Rapunzel-Boykott ja oder nein?

Stimmzettel

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Corona das menschenverachtende Gedankengut, das in Teilen der (auch veganen) Bio-Branche vorherrscht, noch sichtbarer machen würde. Gerade diskutieren Fans der Naturkostmarken Rapunzel und Zwergenwiese, ob man diese Produkte nun noch kaufen darf oder ob ein Boykott des Herstellers angezeigt sei, da Rapunzel-Gründer und -Geschäftsführer Joseph Wilhelm sich kürzlich als Sozialdarwinist, Impfkritiker, Abtreibungsgegner und Verschwörungsgläubiger in Szene gesetzt hat.[1]

Um die Antwort vorwegzunehmen: Jein.

Derzeit arbeite ich an einem Vortrag zur Kritik der Konsumkritik, in dem ich solche Appelle an eine angeblich extrem mächtige Konsumentenmacht untersuche („Dein Einkaufszettel ist ein Stimmzettel!“). Wer meint, ohne die ausgezeichnete Nirwana-Schokolade nicht leben zu können, soll sie halt weiterhin kaufen und genießen. Daran ist nichts Verwerfliches.

Zur Frage des Boykotts: In Einzelfällen kann eine kollektive Verweigerung, Produkte oder Dienstleistungen eines bestimmten Unternehmens zu kaufen, dieses dazu bringen, seine Geschäftspolitik anzupassen und, vielleicht zumindest temporär, Umwelt- und Sozialstandards, Mitarbeiterinnenrechte usw. stärker zu berücksichtigen. Erstens muss man hier jedoch genau hinschauen, wer aus welchen Gründen boykottiert werden soll. Handelt es sich um israelische Produkte, die von Leuten aus dem BDS-Spektrum abgelehnt werden, weil Israel ein Apartheid-Staat sei?[2] Gegen diese schlecht verkleidete Judenfeindschaft ist harte Kante zu zeigen. Und zweitens:

„Einem in Misskredit geratenen Unternehmen wird der Kaufakt ja nur dadurch verweigert, dass der Konsument ihn einem anderen Unternehmen zuspricht. Das mag eine Wirkung haben, aber keinesfalls die, welche die Konsumentenmacht von sich behauptet. Auf diese Weise kann der Umsatz des einen Betriebs leiden, der der anderen wächst aus demselben Grund. Mit diesem Wechsel der Kaufentscheidung hat sich der Konsument ja ganz innerhalb des Spielfeldes bewegt, das die vielen beklagten Auswüchse überhaupt erst hervorbringt. Dieselbe Geldrechnung, die der Grund für die hässlichen Folgen war, kann nicht zugleich das Heilmittel dagegen sein.“[3]

Die verantwortungsbewusste Konsumentin sucht sich eigenverantwortlich, nachdem sie ausführlich Bewertungsportale studiert und die Siegelversprechen der Industrie miteinander verglichen hat, das für sie passendste Produkt aus. Konsumkritik bedeutet zum Glück nicht, tatsächlich auf etwas verzichten zu müssen, denn Verzicht ist „uncool“, wie die Journalistin Tanja Busse in ihrem Buch Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht aus dem Jahr 2006 schreibt.[4]

Veganismus und andere Spielarten des ethischen Konsums sind bloßer Ablasshandel für ein ruhiges Gewissen – für Leute, die sich das leisten können. Die Machtfrage muss glücklicherweise nicht gestellt werden, im Gegenteil arrangiert man sich auf diese Art mit den Verhältnissen. Sich vom Kapitalismus freizukaufen funktioniert aber nicht. Dass der individuelle Konsum irgendeine Form von Machtmittel sei, ist ein erfolgreiches Märchen, das viele Menschen (nicht nur Veganerinnen) nur zu gern glauben und reproduzieren, weil es die bequemen Verhältnisse, in denen man es sich so vorbildlich eingerichtet hat, in keiner Weise antastet. Auch Ruediger Dahlke, der sich seit rund zehn Jahren als veganer Ernährungsratgeber verdingt, verbreitet den Irrglauben, man könnte sich und die Welt durch Ernährung und bewussten Konsum retten, mehr noch: erlösen. Die Wahl zwischen Produkt A und Produkt B ist jedoch eine vermeintliche. Der einzelnen Konsumentin fällt die Verantwortung zu, zwischen „guten“ und „bösen“ Waren zu unterscheiden und sich für die „richtige“ zu entscheiden. Daran kann sie nur scheitern. Denn es gibt keine Wahl zwischen guten und bösen Waren, es gibt nur kapitalistisch produzierte Waren. Wie(so) sollen die einzelnen Käuferinnen mit dem Inhalt ihres Warenkorb über Ausbeutung, Umweltvergiftung, Kinder- und Sklavenarbeit bestimmen? Wäre es nicht vielmehr Aufgabe internationaler Politik, dafür zu sorgen, dass es gar nicht erst zu Ausbeutung, Umweltvergiftung, Kinder- und Sklavenarbeit kommt?

Bewusster (auch: ethischer oder politischer) Konsum macht die Welt nicht besser oder gerechter, sondern verstärkt Ungleichheit, befördert Entsolidarisierung und stützt den Kapitalismus. Er dient der Gewissensberuhigung und verhindert notwendige Kritik am globalen Wirtschaftssystem und den ihm immanenten Zurichtungen durch Lohnarbeit für den Großteil der Weltbevölkerung.

Zum Schluss eine unausgegorene These: Warum ist der „richtige“ Konsum überhaupt so wichtig? Was haben Glaube, Familie, Herkunft und individueller Konsum gemeinsam? Sie sind sinn- und/oder identitätsstiftend. Wenn Wahnhaftes (Glaube an jungfräuliche Geburt bis jüdische Weltverschwörung), Zufall (Familie, Herkunft) oder Irrelevantes (Produkt A oder Produkt B) zu einem festen Bestandteil der Identität werden, wird es mitunter gefährlich.

[1] Eine gute Zusammenfassung & die Quellen: https://twitter.com/Alert4_Alert4/status/1261930527617093634

[2] Warum ist BDS antisemitisch? https://www.bs-anne-frank.de/fileadmin/user_upload/Slider/Publikationen/BDS_Kritik_Broschuere.pdf

[3] https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/ideologien-ueber-konsum-konsument-marktwirtschaft

[4] Tanja Busse: Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht, Blessing, München 2006, S. 95.