Krisenlektüre 3: Anne Franks Tagebuch

Bild: Fischer

Anne Frank: Tagebuch (Fischer, Frankfurt/Main 1992, 316 Seiten)

Es muss etwa in der 7. oder 8. Klasse gewesen sein, dass ich in der Schule eine Verfilmung der Tagebuchaufzeichnungen von Anne Frank gesehen habe. Ich erinnere mich noch, wie albern ein paar Mitschüler bei jeder Szene wurden, in der die Katze Mouschi auftrat, und wie enervierend meine Freundinnen und ich dieses pubertäre Verhalten fanden.

Den wenigsten Leserinnen erzähle ich etwas Neues, wenn ich sage, dass Anne Frank ein sehr kluges und begabtes junges Mädchen war. Mir wurde dies bei der neuerlichen Lektüre noch einmal sehr bewusst. Annes letzte Aufzeichnungen im Sommer 1944 – zu diesem Zeitpunkt war sie gerade 15 Jahre alt – stecken voller Interessen und Zukunftspläne, einem starken Bewusstsein ihrer Selbst, einem schier unbändigen Streben nach Unabhängigkeit (sowohl von ihrer Familie als auch von Männern) und einer Fähigkeit zur Selbstreflexion, die, zumal in diesem Alter, alles andere als selbstverständlich ist. Auch feministische Ansätze sind bereits deutlich.

Annes Eintrag vom 6. Juni 1944, dem Tag, an dem die Alliierten in der Normandie landeten und der als D-Day bekannt ist, ist so hoffnungsvoll, dass jeder Satz schmerzt. Das Ende ist bekannt. Wäre Anne Franks Leben nicht von deutschen Mördern im Konzentrationslager Bergen-Belsen beendet worden, sie hätte eine bedeutende Feministin werden können, eine große Schriftstellerin, Philosophin, Historikerin oder Gesellschaftswissenschaftlerin. Nein, kein Oder. Sie wäre alles geworden.