
Hilal Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (C. H. Beck, München 2014, 301 Seiten, 2. Auflage, € 16,95)
Eigentlich müsste man jeden Satz aus diesem Buch zitieren. Hilal Sezgin legt mit Artgerecht ist nur die Freiheit ein moralphilosophisches Handbuch vor, das intelligent, verständig und so deutlich wie nachvollziebar zeigt, dass und warum nichtmenschliche Tiere einen Platz in unserer Vorstellung von Ethik haben sollten, ja: brauchen.
Sezgin bezieht in ihre Diskussion nicht nur die Geschichte und aktuelle Standpunkte der Tierethik ein und lässt diejenigen, die direkt oder indirekt von Tieren profitieren, zu Wort kommen, sondern bringt viele Einzelbeispiele aus eigener Beobachtung und eigenem Erleben ein. Da gibt es etwa die Geschichte der Henne Keira, die, aus einem Bio-Freiland-Betrieb stammend, bei der Autorin nach dem berüchtigten Ausstallen ein Zuhause und ein Leben bekam. Nach einem vermuteten Schlaganfall stellte sich die Frage, wie es mit ihr weitergehen sollte – sie schien apathisch und nicht mehr am Leben interessiert. Der Tierarzt wurde gerufen, um sie zu erlösen. Plötzlich jedoch aß sie wieder, nahm am Leben teil. Dann wieder der Rückfall in Regungslosigkeit. Das Ganze wiederholte sich einige Male, der Tierarzt wurde einige Male gerufen und wieder abbestellt. Schließlich fuhr Sezgin mit Keira zur Vogelklinik nach Hannover. Die spezialisierte Tierärztin dort sah keine Hoffnung mehr, es sei das beste, das Tier einzuschläfern. Sezgin erzählt diese Geschichte im Rahmen ihrer Ausführungen zur Euthanasie, doch es stecken ganz grundlegende Fragen darin: Wie würden wir, wie sollen wir moralisch richtig handeln? Wie gehen wir mit der Verantwortung um, die wir gegenüber Tieren haben, die mit, bei oder sogar für uns leben?
Und haben wir das Recht, auf solch drastische Weise in ihr Leben (indem wir ihren Tod herbeiführen) einzugreifen? Diese Fragen stellen sich im übrigen nicht nur in Bezug auf das an sich schon komplexe Thema Euthanasie, sondern lassen sich überhaupt auf unser Verhältnis zu Tieren übertragen und Sezgin geht ihnen in verschiedenen Zusammenhängen wie dem Tierexperiment und der Nahrungsmittelproduktion nach.
Die Fragen, ob wir Tiere quälen, töten und/oder nutzen dürfen, die den einzelnen Kapiteln als Überschriften zugeordnet sind, beantwortet Sezgin mit einem sehr klaren Nein. Schließlich stellt sie sich und uns die Frage, wie wir denn überhaupt mit Tieren zusammenleben können. Eine Aufforderung an uns alle lautet als Schlussfolgerung aus Sezgins vorangegangener Diskussion: „Die erste und wichtigste Entscheidung wäre zu sagen: Diese Leben sind nicht die unseren, wir haben keine Vollmacht für sie und wollen uns eine solche nicht weiter anmaßen. Wir werden also keine Tiere mehr fangen, verschleppen, züchten und einsperren oder töten, weil niemand das Recht hat, dermaßen vollständig über das Leben Unbeteiligter zu bestimmen.“ Denn nur, wenn wir das Recht dieser Unbeteiligten auf ihr eigenes Leben, das als Gut an sich wertvoll ist, respektieren, kann es so etwas wie ein Zusammenleben mit ihnen „als Nachbarn und Mitbewohner“, statt „als Nutztier oder Kuscheltier“ überhaupt erst geben. Ein bisschen weniger Eingesperrtsein, ein bisschen mehr Auslauf, ein paar mehr der berühmten „Bauern um die Ecke“ ändern eben nichts daran, dass im System an sich der Fehler begründet ist. Sezgin plädiert daher dafür, dass wir wieder lernen, Verantwortung zu übernehmen für unsere Handlungen. Ganz praktisch wirbt Sezgin daher für den ethisch motivierten Veganismus als Basis dieses neuen (Zusammen)Lebens, das nichtmenschliche Tiere als an ihrem Leben interessierte Individuen anerkennt und in moralische Überlegungen als Mitglieder einbezieht, gerade und besonders auch dort, wo wir es abseits von unnötigen Tierversuchen und Fleischproduktion mit Dilemmata zu tun haben, die schwer zu lösen sein mögen.