
Upton Sinclair: Der Dschungel (Unionsverlag, Zürich 2014, 416 Seiten, € 13,95; Erstveröffentlichung 1906)
Vor knapp hundert Jahren zum ersten Mal erschienen, führt uns Upton Sinclairs Dschungel in eine Welt, die auch heute noch existiert. Es ist die Welt der Schlachthöfe, der mittellosen Immigranten und der Diebe und Gauner – im Großen wie im Kleinen.
Jurgis Rudkus, die zentrale Figur des Romans, erreicht mit seiner Familie Anfang des 20. Jahrhunderts Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie kommen aus einem kleinen Dorf in Litauen und träumen den Traum von einem besseren Leben, von Freiheit und Erfolg, den so viele träumten und der so viele ins Elend stürzte. Nach und nach landen Jurgis, seine Verlobte Ona, sein alter Vater, Onas Cousine Marija und auch der dreizehnjährige Stanislovas in den Arbeitsmühlen der Chicagoer Schlachthöfe und Konservenfabriken. Anfangs naiv und unbedarft, erkennt Jurgis schließlich, dass sie als Arbeitsvieh ausgebeutet werden und ebenso wie die Schweine und Rinder, die sie abstechen und verarbeiten, nur als Mittel angesehen werden, aus Geld noch mehr Geld zu machen. Mitunter verspürt man den Wunsch, Jurgis und seiner ganzen Einwandererfamilie ihre Naivität um die Ohren zu hauen, ein vom Autor wohl nicht unbeabsichtigter Effekt.
Viele Menschen denken, die Fließbandproduktion sei eine Erfindung des Autobauers Ford gewesen. Mitnichten: Sie wurde an der Schlachtbank in Chicago erfunden, Ford hat diese praktische Form der Arbeitsteilung lediglich auf die Massenproduktion von Autos übertragen. Die detaillierten Beschreibungen von der Arbeit in den Schlachthöfen sind teilweise kaum zu ertragen: Akkordarbeit, Unfälle (teils mit Todesfolge), Rausschmiss bei Arbeitsunfähigkeit, Überproduktion im Wechsel mit Kurzarbeit, Korruption und Lohndumping sind an der Tagesordnung. Die Tiere werden in Güterwaggons der zum Fleischtrust gehörenden Eisenbahn täglich zu Tausenden herangekarrt, mit Elektroschockern getrieben, betäubt (nicht immer erfolgreich), getötet und zerlegt. Die hygienischen Zustände sind widerwärtig, die Arbeiter waten durch Seen von Blut und Innereien, die Luft ist stickig heiß und dampft, sodass die Arbeiterinnen und Arbeiter kaum drei Schritt weit sehen können. Was später alles in den Delikatessdosen landet, möchte man lieber gar nicht so genau wissen, von Kartoffelschalen bis zu vergammeltem, eitrigem Fleisch kann alles dabei sein.
Wirft man einen Blick in deutsche, österreichische oder andere europäische Schlachthäuser im Jahre 2014, stellt man fest, dass Sinclairs Beschreibung der Arbeitsbedingungen, der hygienischen Zustände, der Behandlung der Tiere heute immer noch blutige Realität ist. Die ersten zwei Drittel seines Romans lassen sich als Plädoyer gegen das Schlachten lesen, er führt vor, wie unmenschlich, wie barbarisch es ist. Die Menschen, die mit roher Gewalt den Tieren an die Kehle müssen, werden oft selbst unmenschlich, tierisch im negativen Sinne des Wortes.
Die Figuren wirken stellenweise etwas konturlos, teils auch stereotyp. Doch das tut der Geschichte wenig Abbruch; zeigt es doch auch, dass es zig Menschen gab und gibt, die ein ähnliches Schicksal wie Jurgis und seine Familie teilen, abgedrängt an die Peripherie der Gesellschaft, ohne Hoffnung auf ein Leben in Würde, deren Denken sich einzig um die Frage dreht, wie sie die nächste Mahlzeit auftreiben sollen.
Sinclair selbst ernährte sich lange Zeit vegetarisch und befasste sich nicht nur mit der Produktion von Nahrungsmitteln, sondern auch mit den gesundheitlichen Aspekten von Ernährung. Seinen Dr. Schliemann, Sinclairs Sprachrohr eines sozialistischen Himmels auf Erden, lässt er am Schluss des Buchs sagen: „Außerdem ist erwiesen, dass Fleisch für die menschliche Ernährung nicht notwendig ist, und Fleisch ist doch ganz offensichtlich schwerer zu erzeugen als pflanzliche Nahrung, schwieriger zu behandeln und zuzubereiten und verdirbt auch leichter. Doch was tut’s, solange es den Gaumen stärker kitzelt?“ Sinclairs Plädoyer für einen respektvolleren Umgang der Menschen untereinander und für eine Welt, in der der Einzelne einen Wert an sich hat und nicht über sein Bankkonto definiert wird, klingt heute wohl noch utopischer als bei Erscheinen des Romans. Man klappt das Buch allerdings mit dem Gefühl zu, dass es sich doch lohnen könnte, zu kämpfen. Und wenn hierdurch auch noch den Tieren geholfen würde, umso besser.