
Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin – und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert (Blessing, München 2010, 384 Seiten, € 19,95)
„Wer überall ist, ist nirgendwo.“ (Seneca, römischer Philosoph, 1. Jh. n. Chr.)
Wann hast du zuletzt einen längeren Text handschriftlich verfasst? Kannst du das überhaupt noch, Gedanken ohne die Copy & Paste-Funktion sinnvoll verknüpfen und niederschreiben? Wann hast du dich das letzte Mal so sehr in ein Buch vertieft, dass die Welt um dich herum verschwand? Wie viel Zeit verbringen du und dein Gehirn online – am Computer, unterwegs mit dem iPhone, auf dem Sofa mit dem Tablet, während der Fernseher läuft und dein Partner versucht, dir von seinem Tag zu erzählen? Oder schickt ihr euch schon gegenseitig Memos via Facebook von Wohnzimmer zu Schlafzimmer? Wenn du dich mit Freunden triffst, liegt dein Mobilgerät mit Internetzugang griffbereit neben dir? Lässt du dich bei der Arbeit vom Pling-Geräusch, das das Eintreffen einer neuen E-Mail signalisiert, von der Aufgabe ablenken, mit der du gerade beschäftigt bist? Wie viele Browsertabs und andere Fenster hast du geöffnet, während du das hier liest (wenn du überhaupt bis hierher gelesen hast)?
Mit solchen Fragen konfrontiert der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Nicholas Carr seine Leserinnen und Leser. Wer bin ich, wenn ich online bin ist aus einem im Sommer 2008 veröffentlichten Text mit dem Titel Is Google Making Us Stupid? entstanden, der damals für einiges Aufsehen unter Internet-Kritikern wie -Befürwortern sorgte. Das Grundgerüst von Carrs Überlegungen ist in dem Artikel bereits enthalten, wird im vorliegenden Buch weiter ausgeführt und mit Erkenntnissen aus jüngeren Studien der Neurowissenschaften ergänzt. Zunächst aber macht der Autor eine Zeitreise und zeigt anhand der Erfindung der Uhr, der Einführung von See- und Landkarten sowie der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks, welche Auswirkungen diese auf das Denken der Menschen hatten und haben. Daran knüpft er im Verlauf immer wieder an und zeigt strukturelle Parallelen zur „digitalen Revolution“ auf.
„Neurologisch betrachtet werden wir zu dem, was wir denken.“ (Nicholas Carr)
Carr beschreibt zu Anfang ein Klavierexperiment: Die Teilnehmer werden in zwei Gruppen eingeteilt, von der die eine eine Melodie real am Klavier spielt, während die Mitglieder der zweiten Gruppe sich nur vorstellen sollen, sie säßen am Klavier und spielten eben diese Melodie. Es wurden bei den Teilnehmern beider Gruppen die gleichen Veränderungen in der Gehirntätigkeit beobachtet. Gedanken haben demnach einen physischen Einfluss auf das Gehirn. Die Erkenntnis, dass die Verbindungen der zig Millionen Synapsen in unserem „Denkapparat“, variabel sind und sich je nach Situation und Anforderung neu ordnen und anpassen, wobei alte Verbindungen notgedrungen gekappt werden, damit neue entstehen können, ist noch recht neu. Bis vor wenigen Jahrzehnten nahm man allgemein an, unsere Gehirnstruktur sei mit dem Erwachsenwerden fertig ausgebildet und „starr“. Carr zeigt anhand diverser Forschungsergebnisse, dass dem mitnichten so ist, im Gegenteil: Die Flexibilität (der Fachbegriff lautet neuronale Plastizität), technische, mechanische und digitale Hilfsmittel für unterschiedlichste Problemlösungen zu finden und einzusetzen, war und ist eine wichtige Eigenschaft im menschlichen Evolutionsprozess, ob man diese Fortschritte nun gutheißt oder nicht. Dabei verlangen die neuen Hilfsmittel neue synaptische Verbindungen, die innerhalb weniger Tage oder nur Stunden im Hippocampus aufgebaut und gefestigt werden.
Mehrfach weist Carr darauf hin und zitiert hierzu antike, mitttelalterliche und neuzeitliche Skeptiker, dass „die intellektuellen Fähigkeiten, die wir verlieren, (…) ebenso wertvoll oder sogar noch wertvoller sein [können] als die, die wir uns stattdessen aneignen.“ Keineswegs will er damit ein Horrorszenario entwerfen und uns alle in eine internet-lose Welt zurückbeamen. Aber die schöne neue Ablenkungswelt des World Wide Web, die das Fernsehen (zumindest bis jetzt) nicht etwa abgelöst hat, sondern es noch ergänzt, bringt Veränderungen mit sich, die wir heute vielleicht noch gar nicht richtig einschätzen können, weil sie noch so relativ jung ist. Gerade wächst die Generation der sogenannten Digital Natives heran, die, bevor sie selbst richtig lesen und schreiben können, mit dem Tablet durch die Welt surfen. Wie wird dies ihre Art zu denken und zu kommunizieren verändern?
Dass es das tut, zeichnet sich bereits jetzt ab, wie Carr darlegt: „Wenn wir online gehen, begeben wir uns in eine Umgebung, die oberflächliches Lesen, hastiges und zerstreutes Denken und flüchtiges Lernen fördert.“ Wohl nicht zufällig benutzen wir als Zugang zum World Wide Web einen sogenannten Browser; der Begriff stammt vom englischen Verb to browse ab und bezeichnet die Tätigkeit am Zeitungskiosk schnell und oberflächlich durch eine Zeitung oder Zeitschrift zu blättern, um sich einen Überblick über deren Inhalt zu verschaffen.
Die Augenbewegungen von Probanden in verschiedenen Tests mit der Frage, wie Online-Inhalte wahrgenommen werden, zeigen, dass hier nicht mehr „klassisch“ linear gelesen wird, sondern häufig nur die Überschrift und die ersten Zeilen tatsächlich gelesen werden, während die folgenden Absätze in einer grob dem Buchstaben F ähnelnden Bewegung nur noch überflogen werden, und zum Ende hin wird immer weniger wahrgenommen. Viele Web-Texte enthalten außerdem Querverweise, (Hyper-)Links, die die Aufmerksamkeit, das Lernen und Verstehen zusätzlich beeinflussen, da jeder einzelne von ihnen den Lesefluss, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, unterbricht und wir jedes Mal entscheiden müssen, ob wir der Verlinkung folgen wollen oder nicht. Je mehr Links ein Text enthält, desto geringer ist das Textverständnis. Leider wird von Carr keine Untersuchung erwähnt, wie es dann mit Fuß- oder Endnoten in gedruckten Werken steht. Für einen Vergleich wäre dies interessant gewesen. Zumindest aus meiner „Lesekarriere“ kann ich jedoch hinzufügen, dass ich Fußnoten in einem Buch eher (auch bewusst) überlese als die – stets auch farbig oder durch Unterstreichung deutlich gekennzeichneten – Online-Verweise.
„Wir formen unsere Werkzeuge, und danach formen sie uns.“ (John Culkin, Medienexperte, 1967)
Es ist ein verbreiteter Irrglaube, das Netz könne unser Gedächtnis ersetzen. Sicher können wir, solange eine Verbindung vorhanden ist, so ziemlich alles in Sekundenschnelle ergoogeln. Aber die Sicherheit, dass ja alles „da draußen“ gespeichert und jederzeit abrufbar ist, ist trügerisch. Denn je mehr wir uns auf das „digitale Gedächtnis“ verlassen, desto schlechter funktioniert unser biologisches Gedächtnis, weil es nicht mehr gefordert wird – und desto mehr sind wir wiederum auf das Internet als Speicher angewiesen.
Keine Frage, das Internet ist ein ausgesprochen praktisches Werkzeug, das uns vieles erleichtert und wie jede neue technische Errungenschaft Altes ablöst. Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass es strukturelle Veränderungen hervorruft, die irgendwann nicht mehr rückgängig gemacht werden können. So wie viele Menschen heute kaum noch in der Lage sind, längere zusammenhängende Texte mit Stift auf Papier zu verfassen, könnten wir irgendwann die Fähigkeit einbüßen, Texte gedanklich fokussiert zu lesen, deren Inhalte zu verstehen und in unserem Langzeitgedächtnis zu speichern. Bis es eine Information vom Arbeitsgedächtnis dorthin schafft, können Tage vergehen, und bei der heute aufgenommenen Menge an Informationsbrocken und -bröckchen ist unser Gehirn oft schlicht überfordert, noch Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und so wird letztlich gar nichts oder Unwesentliches gespeichert. Denn wer kennt das nicht: Man liest (überfliegt) einen Wikipedia-Artikel zu welchem Thema auch immer, und weiß eine halbe Stunde später schon nicht mehr, was man da eigentlich gelesen hat. Ganze Referate und Hausarbeiten werden inzwischen aus dem Web zusammenkopiert (das habe ich selbst an der Uni erlebt), die Lernleistung dürfte dabei gegen Null gehen. Carr berichtet von US-amerikanischen Literaturprofessoren, die ihre Literaturstudenten davon überzeugen müssen, die zu besprechenden Texte selbst auch zu lesen, statt sich eine Zusammenfassung aus dem Netz zu ziehen – absurd.
Menschen sind auch keine Multi-Tasker, das ist eine Illusion. Je mehr verschiedene Dinge wir gleichzeitig versuchen zu erledigen, desto länger dauert jede einzelne Aufgabe, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir Fehler machen, und desto schneller ermüden wir. Wir sind keine Maschinen – und unsere Maschinen sind nicht menschlich, auch wenn hochspezialisierte Spracherkennungssoftware die Grenze scheinbar verschwimmen lässt und wir uns mit Siri, Alice oder Jeannie „unterhalten“ können.
Experimente mit „intelligenter“ Software gibt es schon erstaunlich lange. Mitte der 1960er Jahre entwickelte Joseph Weizenbaum am Massachussetts Institute of Technology (MIT) ein Programm namens Eliza, das in der Lage war, die Syntax englischer Sprache zu „verstehen“ und darauf zu antworten. Das Programm funktionierte so gut, dass es auch über den Campus hinaus Verbreitung fand und – wie Weizenbaum selbst mit Erschrecken feststellte – von vielen Benutzerinnen und Benutzern so wahrgenommen wurde, als kommunizierten sie tatsächlich mit einem Menschen und nicht mit einem programmierten Algorithmus. Sogar seine eigene Sekretärin, die dabei gewesen war, als er das Programm schrieb, verfiel der Illusion. Die Geschichte erinnert frappierend an den Film „Her“ von Spike Jonze aus dem Jahr 2013, der das Thema künstlicher Intelligenz und ihrer Auswirkung auf menschliche Beziehungen auf tragikomische Weise aufgreift.
„Der Preis, den wir für die Macht der Technik bezahlen, ist die Entfremdung.“ (Carr)
Die Interaktivität des Web 2.0 spielt eine immer wichtigere Rolle. Sie erleichtert es uns – und zum Teil ermöglicht sie es erst – an Informationen zu gelangen, uns mit anderen zu verbinden und uns selbst auf eine ganz bestimmte, von uns kontrollierte Weise darzustellen. Doch „gleichzeitig macht sie uns zu Laborratten, die unaufhörlich Knöpfe drücken, um an kleine Bröckchen sozialer oder geistiger Nahrung zu gelangen“ – es ist also nicht nur eine Bereicherung und Erleichterung, sondern kann auch zu einem Mangel führen.
Insbesondere auf der Ebene der sozialen Beziehungen, der Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren, wie emotionale Zustände verhandelt und gelebt werden, tritt das Web als zwischengeschalteter Mittler immer mehr hervor und verändert Beziehungen und Kommunikationsmechanismen nachhaltig. Wir entfremden uns durch unsere Technikhörigkeit von unserem Mensch-Sein und reden schon von Schaltkreisen, Arbeitsspeicher und Festplatten, wenn wir unser Gehirn meinen. Trotz aller Vernetztheit bleiben wir aber doch organische Wesen, mit Anschauungen, Gefühlen, Wünschen und Wertvorstellungen. Maschinen sind nicht moralisch, sie haben auch keine Gefühle und können uns nicht wirklich „verstehen“. Menschen lassen sich nicht einfach in eine Anzahl von Einsen und Nullen aufteilen, auch wenn die CEOs von Google, Facebook und Konkurrenten das gern proklamieren.
Kennen tun die Suchmaschinen, Onlinekaufhäuser und Netzwerke uns jedoch verdammt gut. Das müssen sie auch, damit wir immer wieder zu ihnen zurückkehren. Jede unserer Suchanfragen wird vermerkt und jede Suche grenzt die Ergebnisse der folgenden auf gewisse Weise ein, da die Plattformen uns immer besser kennenlernen: Sie wissen Bescheid über unsere Interessen, Hobbys, Freunde, unseren Wohnort, den aktuellen Aufenthaltsort, unsere Lieblingsbands und unsere kulinarischen Vorlieben und können uns dadurch immer passendere Treffer liefern. Die auf unser Benutzer- und Surfprofil zugeschnittenen Ergebnisse bergen schließlich auch etwas wie Langeweile in sich, da sie nichts wirklich Neues liefern können, denn sie können sich nur an dem orientieren, was sie bereits über uns wissen. Überraschungen und Zufälle sind in Googles Algorithmus und in die der anderen nicht einprogrammiert. Unser Vertrauen in solche Portale schafft also nicht nur Abhängigkeiten, sondern verursacht zusätzlich eine Verengung unserer Welt, unseres Weltbildes. Auf diese Dimension sowie die Datensammelwut von Google & Co. geht Carr gar nicht ein, obwohl beides wichtig für das Gesamtbild gewesen wäre. Es sind schließlich Wirtschaftsunternehmen, deren Interesse darin besteht, Geld zu verdienen, viel Geld. Dazu brauchen sie viele Anzeigenklicks, die nur über möglichst passende, personalisierte Werbung generiert werden können. Ob sie das als geniale Suchmaschine oder als „soziales“ Netzwerk machen, spielt dabei eine untergeordnete Rolle und sie tun dies eben, weil sie genau das besonders gut können.
Carr zitiert am Ende seines Buchs einige Experimente, die noch einmal verdeutlichen, dass es neben unseren kulturellen Leistungen und Errungenschaften und dem Second Life, das für manche bereits zum First Life mutiert ist, auch noch die echte Welt da draußen gibt. Studien der vergangenen zwanzig Jahre zeigen, dass ein Bezug zur Natur sowie der reale Aufenthalt in ihr wichtig für unser psychisches Gleichgewicht sind. Wenn wir uns eine Zeit lang in einer naturnahen, ländlichen, ruhigen Gegend aufhalten, wird unsere Aufmerksamkeit gesteigert, unser Gedächtnis funktioniert besser, unsere allgemeine Kognition ist besser. Müssen wir nur fünf Minuten auf die Bahn warten, greift die Hälfte der Wartenden wie aus einem Automatismus heraus zum Smartphone (habe ich neulich mitgezählt, mich selbst eingerechnet). Am Ende des Tages könnten wir auf Nachfrage kaum zusammenfassen, was wir denn den ganzen Tag über im Netz gemacht haben. Was haben wir da konsumiert und ist irgendetwas davon hängengeblieben?
Unser Gehirn braucht dringend Pausen vom Informationsfluss, um zur Ruhe zu kommen, um zu verarbeiten, um zu sortieren. Mit unablässiger Ablenkung und Dauerbelastung geht das aber nicht. Wer sich nach anstrengender und/oder eintöniger geistiger Arbeit für eine halbe Stunde in einen Park begibt oder auch nur Bilder von ruhigen ländlichen Szenen betrachtet, ist anschließend ausgeglichener und wieder leistungsfähig. Der Gang durch belebte Straßen oder das Betrachten quirliger Straßenszenen auf Bildern hingegen haben wenn überhaupt dann einen negativen Einfluss auf die kognitive Leistung.
Der Autor hat es selbst eine Weile ausprobiert und bestätigt die Erfahrung. Er gesteht sogar eine latente Online-Abhängigkeit ein, die ihm erst mit dem Ausschalten seiner E-Mail-Benachrichtigungen, RSS-Feeds & Co. bewusst geworden ist. Auch ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es sich freier lebt, wenn man all das Gepiepse und Geblinke abstellt. Und den Rechner und sämtliche Mobilgeräte ein paar Tage ganz auslassen – wann haben wir das das letzte Mal gemacht? Wir müssen nicht 24/7 erreichbar sein, wir verpassen auch nichts Wichtiges, wenn wir mal nicht bei Facebook und Twitter eingeloggt sind. Die wirklich spannenden Dinge finden offline statt. Und manchmal auch in einem guten Roman, mit dem man es sich auf dem Sofa, im Bett, in der Badewanne oder (hier in Norddeutschland eher selten möglich) auf einer Wiese gemütlich macht.
Meine Bitte, nein, mein Wunsch lautet daher: Mögen wir alle (wieder) mehr Bücher lesen, weniger Zeit vor Bildschirmen totschlagen und vor allem: die Draußenwelt in unser Inneres lassen. Denn, um es (wieder einmal) mit Tucholsky, dem klugen kleinen Mann zu sagen:
Entspanne dich. Lass das Steuer los. Trudle durch die Welt. Sie ist so schön, gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben.
Der provokante Text, der dem Buch vorausging, kann hier (auf englisch) gelesen werden. Ich habe bewusst im Text auf Links verzichtet und werde nach der Lektüre des Carr auch in Zukunft überlegen, ob ein ablenkender Link unbedingt notwendig ist.
In der Draußenwelt gibt es übrigens auch echte Buchhandlungen, Bibliotheken und Antiquariate mit echten Büchern zum Anfassen und Lesen. Ein Besuch lohnt sich immer und mich macht allein schon der Geruch von Papier und Druckfarben glücklich. Und mit der Beute anschließend in den Park oder aufs Sofa.