
Wolfram Hänel, Annet Rudolph: Ein Huhn haut ab (verschiedene Verlage, ursprünglich: Wolfgang Mann Verlag, München 1995, 32 Seiten, ab 4 Jahren, antiquarisch)
Bauernhofgeschichten für Kinder stellen unter veganen Gesichtspunkten immer ein gewisses Dilemma dar. Es gibt einige wenige (wie das vorliegende), die zwar mit der „Tradition“ aufräumen, dass Tiere und ihre Produkte zu unserem Nutzen da seien, dennoch existiert auch in den tauglicheren Geschichten immer ein Farmbild, das hundert Jahre alt ist, als im Kleinbetrieb ein paar Tiere gehalten worden sind. Die Realität sieht ja nun mal so aus, dass die allermeisten Betriebe Großbetriebe (geworden) sind, nach dem Motto „Wachsen oder weichen“ und in den vergangenen Jahrzehnten eine Spezialisierung auf jeweils eine einzige Tierart und ein einziges Produktionsziel stattgefunden hat. Auch sind viele Landwirte inzwischen offiziell und wegen steuerlicher Vorteile Gewerbetreibende, was die Versachlichung des Tierbetriebs ein weiteres Mal unterstreicht. Wenn es beim oder nach dem Vorlesen also zu einem Gespräch über Bauernhöfe kommt, sollte man ruhig so ehrlich seinem Kind gegenüber sein und ihm erzählen, dass die Tiere heute nicht mehr so wie dort dargestellt gehalten werden.
Die Geschichte
Bauer Zschocke hat einen Hof mit allerlei Tieren: Da gibt es ein Schwein in der Hängematte, Hasen, die Frisbee spielen, ein strickendes Schaf, eine Reihe Kühe, Schafe und Ziegen und natürlich eine Hofkatze. Und dann gibt es noch sechs Hühner und einen Hahn. In flapsiger Sprache werden sie ganz zu Anfang vorgestellt: Bauer Zschocke ist „ein bisschen lahm in der Birne“, also heißen die Hennen alle Gerda, nach seiner Frau, und der Hahn Gustav, nach seinem Nachbarn. Die Gerdas leben mit ihrem Hahn in einem Stall, nach draußen lässt der Bauer sie überhaupt nicht. Das finden auch alle Hühner okay, solange das Essen pünktlich geliefert wird. Bis auf Gerda 3, die findet das gar nicht gut und stellt sich vor, wie es wohl draußen sein mag, denn: „Hühner sind nämlich neugierig. Wollen alles wissen. Nur wenn man sie im Schuppen einsperrt, dann wollen sie irgendwann gar nichts mehr wissen.“
Als der alte „Eierklauer“ Zschocke das nächste Mal in den Stall kommt, um die Eier für sein Rührei einzusammeln, nutzt Gerda 3 die Gelegenheit und verschwindet aus dem Stall. Die anderen Bauernhoftiere beobachten entgeistert ihre ersten unkoordinierten Flugversuche. Schließlich klappt es aber doch ziemlich gut und Gerda 3 landet glücklich im alten Eichenbaum. Dann entdeckt sie noch den Misthaufen und einen riesenlangen Regenwurm, den sie sogleich verspeist. Dummerweise greifen da die großen Bauernpranken nach ihr und befördern sie wieder zurück in den Stall. Dort erzählt Gerda 3 der zuvor so skeptischen und ablehnenden Hühnerschar von ihren Abenteuern und wie groß und weit die Welt ist und dass sie voller meterlanger Regenwürmer ist. Am Ende sind sich alle einig, sogar der anfangs so depressiv wirkende Gustav, dass sie alle am nächsten Morgen abhauen und „die weite Welt angucken“ gehen wollen. „Alle kommen mit. Nur der Bauer nicht!“
Mittendrin turnen auf fast allen Seiten kleine geringelte oder gepunktete Fantasietierchen herum, ähnlich den Mucklas bei Pettersson und Findus. Die Illustrationen von Annet Rudolph sind lebendig und lustig, überall gibt es witzige kleine Dinge zu entdecken. Übrigens sind alle sechs Hennen unverwechselbar durch bestimmte äußerliche Merkmale als Individuum gekennzeichnet, Gerda 1 zum Beispiel hat ihren Kamm in eine Lockenwicklerrolle gelegt, Gerda 4 ist gepunktet. Und wenn die sechs Hennen am nächsten Morgen tatsächlich ihren Hahn gepackt und in die weite Welt ausgebrochen sind? Was sie dort wohl für Abenteuer erlebt haben? Wer mag, kann die Geschichte noch in dieser Richtung weiterspinnen. Oder einfach noch mal zurückblättern und sich an den liebevollen Zeichnungen erfreuen.
Noch eine Anmerkung zur Wortwahl in Ein Huhn haut ab: Manch eine*r wird sich vielleicht an ein paar Formulierungen stören, etwa wenn Gerda 3 die anderen Hühner als „blöde Blödmänner“ beschimpft. Ich habe nie verstanden, warum manche Eltern permanent darauf bedacht sind, ihren Kindern einzutrichtern, dass sie Schimpfwörter nicht benutzen dürfen, wo die Erwachsenen das doch ständig tun. Ein erhellender Artikel findet sich im Onlineportal der Zeitschrift Eltern zum Umgang mit Schimpfwörtern: „Eine Vierjährige, die zu Papa ‚Du Blödkopf‘ sagt, weiß, dass dieser Papa sie ganz fest lieb hat. Nur deshalb kann sie es wagen, ihn so anzumachen. Und warum tut sie das überhaupt? Weil sie Grenzen austesten und die Macht der Worte ausloten will. Das gehört zum Alltagsgeschäft der Kleinen und ist wichtig fürs Großwerden.“ Ein Freifahrtschein ist das sicher nicht, aber ein guter Hinweis, lockerer damit umzugehen und mit seinem Kind zu reden. Kommunikation hilft.