
Marie Benedict: Frau Einstein (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Marieke Heimburger, 368 Seiten, € 20,-)
„Die Dunkelheit wird dichter. In der kurzen Zeit, die mir verbleibt, grabe ich in der Vergangenheit nach Antworten wie eine Archäologin. Ich hoffe, herauszufinden, dass die Zeit – so, wie ich es vor vielen Jahren vermutet habe – relativ ist.“
Mit dem Ende beginnt Marie Benedicts mitreißende Nacherzählung der Lebensgeschichte Mileva Marićs, der ersten Ehefrau Albert Einsteins. Benedict schreibt aus der Ich-Perspektive. Die Leserin sieht die Welt durch Marićs Augen – und was sie erblickt, ist oft schmerzhaft.
Denn Albert Einstein, der bald nach Marićs Studienbeginn in Zürich am Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in ihrem Leben zu spielen begann, war kein dankbarer Mann. Wenn man Benedict in ihrer Darstellung folgt, war er noch nicht mal ein besonders sympathischer Mann. Mindestens hat Herr Einstein von den herausragenden mathematischen Fähigkeiten von Mileva Marić profitiert. Es ist gut möglich, dass er sie ausgenutzt hat. Einstein-Forscherinnen deuten eine besondere Klausel des Scheidungsvertrags der beiden dahingehend: Diese sah vor, dass, sollte Albert den Nobelpreis für Physik zugesprochen bekommen, das Preisgeld an Mileva gehen sollte. So ist es schließlich auch geschehen. Das lässt sich zumindest als indirektes Eingeständnis lesen, dass Mileva Marić einen bedeutenden Anteil an der Entwicklung der Relativitätstheorie gehabt haben dürfte.
Wer war diese Mileva Marić, die von Familie und engen Freundinnen Mitza genannt wurde? The Other Einstein, so der Originaltitel des Buchs, trifft es gut und lädt zu dem Gedankenexperiment ein, was geschehen wäre, wäre sie nicht als Mädchen, sondern als Junge zur Welt gekommen. Vielleicht verbänden wir die Relativitätstheorie dann mit dem Namen des weltbekannten serbischen Physikers Mile Marić. Mitten ins Studentinnenleben stürzt Benedict ihre Protagonistin auf den ersten Seiten, wo sie sich sogleich neben ihren durchweg männlichen Studienkollegen und Dozenten in Zürich beweisen muss. Sie ist die beste Schülerin im Kurs; ihr Vater hatte den Weg für das begabte Mädchen geebnet und sich stets für ihre Bildung eingesetzt.
Doch dann kommt alles anders als geplant. Marić verliebt sich in Albert Einstein, wird von ihm schwanger und bekommt ein uneheliches Kind. Während der Schwangerschaft und nach der Geburt ist sie – folgt man Benedicts Darstellung – überwiegend auf sich allein gestellt. Die Tochter Lieserl lernt Einstein nie kennen, ihr Schicksal ist unbekannt. Einstein meinte, mit der Heirat warten zu müssen, bis er eine feste Anstellung fände. Marić hatte zuvor ein Angebot ausgeschlagen, immerhin als Lehrerin zu arbeiten, da auch sie abwarten wollte, bis ihr „Jonzerl“ einen richtigen Posten in Aussicht hätte. Hätte sie mal, hätte sie doch – auf ihren Vater gehört, auf ihre Freundinnen gehört, auf ihre eigenen Zweifel gehört.
Es ist eine Geschichte wie viele. Zu viele Geschichten von zu vielen Frauen, deren Leben begrenzt blieb, weil die vorherrschenden Kräfte in der modernen Gesellschaft, Kapital und Patriarchat, sie zu einem elenden Dasein in Unmündigkeit, ökonomischer Abhängigkeit und Selbstverleugnung zwangen. Doch sie alle sollen, sie müssen erzählt werden, damit Frauen – wie die Frauenrechtsaktivistin Hedwig Dohm formulierte – schließlich die werden, die sie sind.