Fast wäre ich nicht stehengeblieben

„Sprechen Sie deutsch?“ An der Ecke Susannenstraße / Schanzenstraße sprach mich heute Abend ein Mann an, der leicht zusammengesackt auf einer Bank saß. Ich hielt das für eine sehr schlechte Anmache und wollte schon weitereilen – nach einem langen Spaziergang durch Planten und Blomen nur noch nach Hause und endlich etwas Richtiges essen. Irgendetwas bewog mich jedoch, stehenzubleiben und den Herrn zu fragen, wie ich ihm helfen könne. „Können Sie 112 für mich wählen?“, flüsterte er. Die Worte kamen stockend und drangen nur Stück für Stück zu mir vor. Leicht alarmiert fragte ich ihn, was ihm fehle. Er fasste sich ans Herz und klagte über Schmerzen. Vor drei Wochen erst sei er operiert worden. Er habe das Gefühl, nicht atmen zu können und einer Ohnmacht nahe zu sein. Ich sei die erste, die reagiert hätte. Vor mir hätte er bereits 20 Menschen um Hilfe gebeten. Mit dieser Information im Kopf beeilte ich mich, den Notruf zu wählen.

Während ich noch mit der Zentrale sprach, blieben zwei junge Männer neben uns stehen. Der eine fragte, ob wir Hilfe benötigten. Ja! Es stellte sich heraus, dass er Sanitäter ist. Was für ein Glück! Routiniert stellte der Jüngere dem Älteren Fragen zum Gesundheitszustand, zu Medikamenten und Erkrankungen und maß den Puls. Bald kamen die Kollegen vom Rettungsdienst. Sie stellten die gleichen Fragen und luden den Herrn bald in ihr Fahrzeug. Er erklärte ihnen, mit einem Blick zu mir: „Sie ist als einzige stehengeblieben. Danke!“ Ich reichte noch seine Einkaufstüten hinein. Dann fuhren sie ab, zum nächsten Krankenhaus. Der junge Sanitäter und sein Freund waren inzwischen verschwunden.

Plötzlich stand ich ganz allein dort. Wie lange hatte die Begegnung gedauert? Wenige Minuten. Wie lange hatte er dort bereits gesessen und nach Luft gerungen? Viele Minuten. Zu viele. Und fast wäre auch ich vorbeigehastet. Älterer Typ quatscht junge Frau im Ausgehviertel an. Das hätte von schlechter Anmache bis zu einem miesen Abzocketrick alles sein können. Zum Glück habe ich diesen Weg nach Hause gewählt. Zum Glück habe ich mich gegen eine Fahrt mit der S-Bahn entschieden. Zum Glück bin ich stehengeblieben, ja. Doch besser wäre gewesen, die erste, oder zumindest die zweite oder dritte Person wäre stehengeblieben und hätte geholfen.

Was für eine Gesellschaft ist das, in der ich als Frau erst mal abwägen muss, ob ein Hilfegesuch echt klingt oder nicht? Ob jemand meine Gutmütigkeit ausnutzen will. Ob Anteilnahme mich selbst in Schwierigkeiten bringen wird. Fast wäre ich nicht stehengeblieben. Fast.