Sonnenblume

Nachhaltig verzichtsfrei

Annalena Baerbock träumt. Sie träumt von einer Welt, in der ökostrombetriebene Killerkarren deutsche Städte und Dörfer bevölkern. Sie träumt von der Ökologisierung der Luftfahrtbranche, von nachhaltigem Tourismus und deutschem Einzelhandel, an denen die marode Welt genesen möge. Annalena Baerbock träumt davon, die Demokratie zu verteidigen, indem man mit Rechten auf Podien sitzt um zu „diskutieren“. Annalena Baerbock liebt ihre Heimat. Annalena Baerbock träumt von Wirtschaft und Klima ohne Krise. Annalena Baerbock träumt von grünem Wettbewerb und einem Kapitalismus mit menschlicher Fratze. Annalena Baerbock versteht wenig. Das macht aber nichts, denn sie kann Trampolinspringen, schräge Metaphern und Abschreiben. Annalena Baerbock wünscht sich, dass alle sich an internationale Spielregeln halten, vor allem China und Russland. Annalena Baerbock ist Realpolitikerin. Annalena Baerbock will niemandem wehtun.

Die grüne Kanzlerinnenkandidatin ist „in einem Mädels-Haushalt“ auf einem Bauernhof bei Hannover aufgewachsen und lebt heute mit ihrem Ehemann, dem Politikberater und PR-Manager Daniel Holefleisch, und zwei Töchtern (fünf und neun Jahre) in Potsdam – in einer Mietwohnung, wie die Gutverdienerin in ihrem wegen diverser Urheberrechtsverletzungen vielgescholtenen Buch „Jetzt“ mehrfach betont. In jener Mietwohnung stemmt bereits seit geraumer Zeit der progressive Vater den Großteil der Erziehungs- und Hausarbeit, damit Mama Baerbock sich der Erneuerung des Landes widmen kann, wie es im Untertitel ihres Buchs heißt.

Überhaupt lebt die grüne Kleinfamilie genau das vor, was das nachhaltige Wählerherz erfreut: Grillen – na klar, aber nur mit „zertifizierter Kohle“, und es darf auch gerne mal Fleisch und Wurst auf dem Rost landen, denn „jeder kann essen, was er will, in diesem Land“. Die 40jährige Wahlbrandenburgerin ist viel herumgekommen, nicht nur in diesem erneuerbaren Land: Nach dem Abitur studierte sie Öffentliches Recht und Politikwissenschaften in Hamburg und ging danach an die London School of Economics. Nach ihrem Abschluss 2005 trat sie bei den Grünen ein und wurde schließlich Büroleiterin der Grünen-Europaabgeordneten Elisabeth Schroedter in Brüssel, was sie bis 2008 blieb. Ein wichtiger Grund für ihren Beitritt sei die Auseinandersetzung der Partei über den gemeinsam mit der SPD initiierten Kosovo-Krieg gewesen. „Die Art und Weise, wie gehadert, sich aufgerieben, eine Debatte auch stellvertretend für die Gesellschaft geführt (…) wurde“, markiere „einen Wesenskern der Grünen“. Seit 2018 teilt Baerbock sich den Bundesparteivorsitz mit Robert Habeck. Irgendwann zwischendurch lernte sie während eines Praktikums ihren späteren Mann kennen, 2007 haben sie geheiratet.

Den Vorwurf der mangelnden Regierungserfahrung kontert Baerbock kruppstahlhart: „Drei Jahre als Parteichefin, Abgeordnete und Mutter kleiner Kinder stählen ziemlich.“ Auch in anderen Kampfzonen punktet sie mit realpolitischer Expertise. Ende 2020 fiel ihr zur unterfinanzierten Bundeswehr ein: „Es fehlen Nachtsichtgeräte zum Üben, von Flugstunden ganz zu schweigen. (…) Ja, in manchen Bereichen muss man mehr investieren, damit Gewehre schießen und Nachtsichtgeräte funktionieren.“ Die Grünen bleiben sich auch mit einer Frau an der Spitze in ihrer Kriegslust treu. Und ja, selbst an Israel würde Baerbock wohl mittlerweile ein atomar bestückbares U-Boot verkaufen, was sie 2018 noch abgelehnt hatte.

Annalena Baerbocks im Juni erschienenes Buch „Jetzt“ ist gefüllt mit einem riesigen Wir. Das Personalpronomen taucht nahezu auf jeder der 240 Seiten auf – insgesamt 356 Mal im ganzen Buch. Dabei ist nicht immer das gleiche Wir gemeint; interessant wird es, wo durchscheint, wer mit diesem aktiven, verändernden, erneuernden Wir nicht gemeint sein kann – Hartz-IV-Familien kommen zwar vor, doch lediglich als passive Empfängerinnen paternalistischer Almosen. Armut ist ein Gewinn – für Frau Baerbock: „Es erdet, wenn man bei der Tafel Essen ausgibt.“ Welch ein Glück, dass es diese entwürdigenden Einrichtungen geben muss. „Wir“, das sind mal die „Parlamentarier*innen“, im nächsten Satz die „Bürger*innen“, natürlich auch die Grünen, und, wo es notwendig ist, die „Europäer*innen“.

Auch mit lahmen Gemeinplätzen geizt die Spitzenpolitikerin nicht: Sie freut sich darüber, „dass wir heute in einem freien, demokratischen und europäischen Deutschland leben dürfen“. Worauf dieses Deutsch-Europa basiere? Auf „Mut und politischer Weitsicht“. Wenige Seiten später: „Es braucht jetzt Weitsicht und politischen Mut.“ Solches Blabla könnte ebenso gut vom Redenschreiber einer Angela Merkel oder einer Sahra Wagenknecht stammen. Deutsch-Europa jedenfalls, das hat die Kanzlerinnenkandidatin bei Joschka Fischer gelernt und von ihm abgeschrieben, müsse sich „aus dem Abhängigkeitsverhältnis mit Amerika lösen“, und sie droht in ihrem Buch – deutlich inspiriert von einem äußerst ähnlichen Satz des ehemaligen grünen Außenministers –: „Ohne das stärkste europäische Industrieland wird es kein Europa geben, das als Macht im 21. Jahrhundert seine Werte und Interessen vertreten kann.“

Nicht fehlen dürfen grüne Kernthemen und -kompetenzen. Die Klimakrise sei „zum größten Geschäftsrisiko der Welt geworden“, daher sei Klimaschutz „der entscheidende Wettbewerbsvorteil auf den Märkten der Zukunft“. Die wünscht Baerbock sich „sozial-ökologisch“ – und natürlich: nachhaltig. Die deutschen Kriege der Zukunft werden wohl mit E-Panzern und 100 Prozent recycelbaren Tarnanzügen aus Biobaumwolle geführt werden.

Wettbewerb und Marktwirtschaft gehören zu den Lieblingsvokabeln der Grünen-Chefin. Ihre Empathie für „bildungsferne Schichten“ drückt sie mit den üblichen Floskeln von Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und der Forderung nach einem Mindestlohn von satten zwölf Euro aus. Wovon sie nicht spricht, ist tiefgreifende Veränderung. Kapitalismus als (Klima-)Krisenverursacher, Konsumverzicht der Wohlhabenden sowie radikal andere Produktionsweisen als Bedingung für die gerechtere Welt, von der sie angeblich träumt, klammert sie überdeutlich aus. Denn sie weiß ganz genau, dass das bei ihrer Wählerschaft nicht gut ankommt. Sie weiß auch, dass jede Bundesregierung der deutschen Industrie und insbesondere den Autokonzernen „Planungssicherheit für Investitionen“ sowie „Innovations-, Förder- und auch Schutzinstrumente“ garantieren muss. Eine Art grüner Keynesianismus schwebt ihr also vor. Geht etwas schief, zahlt Väterchen Staat.

Laut einer Umfrage der Beratungsfirma Plus fährt jeder sechste Grünen-Wähler einen SUV. Anhängerinnen der Grünen gehören außerdem zu den Menschen, die die meisten Flugreisen unternehmen und sich dafür gleichzeitig am meisten schämen. „Hohe Ressourcenverbräuche und Treibhausgasemissionen finden sich gerade in den sozialen Milieus, die sich verbal zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bekennen“, wie das Umweltbundesamt 2016 in einer Studie feststellte. Die Autorinnen konstatieren, dass diejenigen Bevölkerungsschichten besonders viele Ressourcen verbrauchten, „in denen positive Umwelteinstellungen sowie das Wissen weit verbreitet sind, dass ein sparsamer Umgang mit Ressourcen notwendig ist”. Neuzulassung nur noch von „sauberen“ E-Autos, höhere Flugticketpreise und CO2-Ablasshandel sind daher genau die richtigen Werkzeuge, um das grüne Gewissen zu beruhigen.

Baerbocks Klientel liebt die moralische Aufladung. Denn sie selbst stützt sich auf ein moralisches Kapital, das in „Werten“ wie Nachhaltigkeit, Generationen- und Klimagerechtigkeit besteht. Ein Fehltritt wie etwa Baerbocks Nennung des „N-Worts“ bei einem Interview kratzt an diesem Selbstbild, weshalb die Kandidatin sich früh und äußerst offensiv entschuldigte. Die relativ neu entstandene ökologische Mittelschicht grenzt sich mit Hilfe von nichtmateriellen Werten gegen die traditionelle Mittelschicht aus eher konservativen Angestellten und Kleingewerbetreibenden ab. Überhebliche Konsumkritik zeichnet sie aus, und Annalena Baerbock ist ihre Kanzlerin.

Die falschen Angaben im Lebenslauf, zu spät gemeldete Nebeneinkünfte und auch die Plagiatsvorwürfe sind die geringsten Sorgen, die einem die grüne Kanzlerinnenkandidatin machen sollte. Baerbock und ihre Partei werden sich daran messen müssen, ob sie bei einer wie auch immer gearteten Regierungsbeteiligung Ideen wie ihr „Demokratiefördergesetz gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Hass“ umsetzen und ob dann tatsächlich Gelder in Antirassismus- und Antifa-Projekte fließen werden. Die Grünen bleiben jedoch mit oder ohne Annalena Baerbock eine Kriegs- und Kompensationspartei für Gut- und Besserverdienende mit schlechtem Gewissen.

zuerst erschienen in: Jungle World, 12. August 2021