Mit Familie Winshaw über Leichen

Bild: Piper
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Jonathan Coe: Allein mit Shirley (Piper, München 1998, 565 Seiten, antiquarisch)

England während der Regierungszeit Margaret Thatchers: Die Familie der Winshaws steht in Coes Roman stellvertretend für eine gesellschaftliche Elite, die sich den Anforderungen des Kapitalismus vollkommen verschrieben hat; ein Mitglied unsympathischer als das andere, eines raffgieriger und skrupelloser als das andere – da ist Mark, der zynische Waffenhändler, seine Cousins Thomas und Henry, die in der Bank und in der Politik für die richtigen Entscheidungen sorgen, der dreiste Kunsthändler Roderick, die Kolumnistin und Fernsehmacherin Hilary, die gegen Gewerkschaften hetzt, und schließlich Dorothy, Regentin über riesige Tierbestände in Intensivhaltung, deren Lieblingswort „Effizienzfaktor“ ist.

Michael Owen, ein junger Schriftsteller, wird von der „verrückten Tante“ Tabitha Winshaw engagiert, eine Familienchronik über ihre Verwandten zu schreiben. Nach und nach dringt er tief in den Sumpf aus Korruption, Vorteilsnahme, Selbstsucht und Zerstörung ein, in dem sie sich eingerichtet haben und entdeckt zu seinem eigenen Entsetzen immer mehr Verbindungen zu seinem eigenen Leben.

Die jüngeren Mitglieder dieses Familienclans werden in einzelnen Kapiteln portraitiert. Dorothy Winshaw, die durch die Heirat mit dem Landwirt George Brunwin zur unangefochtenen Herrscherin über eine Farm wird, die sie durch Rationalisierung und Effektivität zu einem modernen Tierproduktionskonzern macht. Die englische Originalausgabe erschien 1994. Was Coe beschreibt, ist heute, zwanzig Jahre später, noch genau so Realität in den Turbomastanlagen und Megaställen: künstliche Besamung von Puten, routinemäßige Antibiotikagabe, Kannibalismus, Schnabelamputation, Ersticken von männlichen Küken. Dorothy nennt es stolz „eine von Umwelteinflüssen befreite Tieraufzucht“ – mit dem Ziel der größtmöglichen Profitsteigerung.

Auch die übrigen Winshaws gehen für Geld über Leichen, direkt oder indirekt, in jedem Fall aber: wissentlich. Coe gelingt es, mithilfe seiner Figuren den Niedergang des Sozialstaats Großbritannien unter Thatcher zu erklären und die Auswirkungen dieses immensen Abbaus auf den Einzelnen und die sozialen Strukturen zu verdeutlichen. Sprachlich ausgereift und eingebettet in eine spannende Geschichte von Verrat und Gewissenlosigkeit, in der bis zum Schluss ungewiss bleibt, wem man trauen kann, ist Coes Allein mit Shirley ein großer literarischer Wurf in sehr britischer Erzähltradition.

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